· 

Zulässige Fragen bei BU-Antragstellung

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat mit nunmehr veröffentlichtem Urteil vom 28.07.2022 (Aktenzeichen: 7 U 370/21) klargestellt, dass die beim Antrag auf Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung die gestellte Antragsfrage

 

„Haben Sie derzeit oder hatten Sie in den letzten drei Monaten Beschwerden in einem der unter Nr. 5 a–i genannten Bereiche?“ mit Bezugnahme auf Heilbehandlungen u.a. wegen „Psyche, Gehirn, Nervensystem (z.B. Depressionen, Bulimie, Suizidversuch, Multiple Sklerose, Migräne)“ 

 

keine unzulässige offene Frage ist.

 

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Der Kl. nimmt seine Berufsunfähigkeitsversicherung auf Leistung und Feststellung des Fortbestands des Versicherungsvertrags nach beklagtenseits erklärtem Rücktritt in Anspruch. Unter dem 19.11.2015 beantragte der Kl. den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung war dem Kl. u.a. bekannt. dass er nicht mehr rennen konnte und dass sein rechtes Bein nach ca. 1–2 km Wegstrecke ermüdete und das rechte Fußgelenk zu schmerzen begann. Teilweise schwoll das Bein bei längerer Wegstrecke an und musste gekühlt werden. Bei dem Kl. war im Jahr 1996 eine Erkrankung an Multipler Sklerose diagnostiziert worden. 1994 hatte er sich das rechte Sprunggelenk gebrochen, was zu einer Verknöcherung des Gelenks geführt hatte. 1998 oder 2000 erlitt der Kl. zudem einen Splitterbruch des rechten Handgelenks. Zur Zeit der Antragstellung litt der Kl. in einer bestimmten Handstellung unter einem Kraftverlust, zudem bestanden Sensibilitätsstörungen in der rechten Hand.

Die auf dem Antragsformular der Bekl. gestellten Gesundheitsfragen verneinte der Kl. dennoch sämtlich. Insbesondere verneinte der Kl. auch die Fragen Nr. 5 g und 6, welche lauten:

 

„Die Fragen beziehen sich auf die letzten fünf Jahre:

 

Nr. 5: Sind oder waren Sie bei Ärzten, Heilpraktikern, Physio-, Psychotherapeuten oder sonstigen nichtärztlichen Therapeuten in Beratung, in Behandlung oder zur Untersuchung wegen Krankheiten oder Beschwerden in folgenden Bereichen:

[...]

g) Psyche, Gehirn, Nervensystem (z.B. Depressionen, Bulimie, Suizidversuch Multiple Sklerose, Migräne)?

 

Nr. 6 Haben Sie derzeit oder hatten Sie in den letzten drei Monaten Beschwerden in einem der unter Nr. 5 a–i genannten Bereiche?“

 

Am 9.1.2019 meldete der Kl. bei der Bekl. Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung an. Dazu teilte er unter dem 19.9.2019 mit, an Multipler Sklerose erkrankt zu sein und unter Beeinträchtigungen der Sensibilität, der Geh- und Stehfähigkeit, der Bewegungsfähigkeit und Kraft an allen Gliedmaßen und dem Rücken zu leiden. 

 

Der Kl. ist u.a. der Auffassung, dass er bereits objektiv keine Anzeigeobliegenheit verletzt habe. Dies scheitere schon daran, dass die offene Frage nach „Beschwerden“ unzulässig sei, weil mit ihr wegen der Unklarheit des Begriffs der Beschwerde eine unzulässige Risikoverlagerung auf den VN einhergehe. Selbst wenn man die Frage für wirksam gestellt halte, habe der Kl. sie schon objektiv nicht falsch beantwortet. Der Kl. habe sich bei Antragstellung völlig gesund gefühlt. Die MS-Erkrankung, welche sich damals in einer rechtsseitigen Gefühlsstörung geäußert habe, habe schon 1996 keine nennenswerten Beeinträchtigungen hervorgerufen. Nach fast 20 symptomfreien Jahren habe er an diese bei Antragstellung nicht mehr gedacht. Das Ermüden des rechten Beines habe er nicht auf die MS-Erkrankung, sondern auf eine insgesamt schlechte und nicht gut trainierte körperliche Verfassung zurückgeführt. Tatsächlich sei dieser Umstand, der auch nicht gefahrerheblich sei, auch objektiv nicht anzeigepflichtig. Erst durch den Besuch bei Dr. ... im Jahr 2016, bei dem es sich nur um einen Check-Up gehandelt habe, sei ihm die MS-Erkrankung wieder in Erinnerung gerufen worden. Vor dem Hintergrund des langen symptomfreien Verlaufs würde sich selbst eine objektive Falschbeantwortung der Frage Nr. 6 allenfalls als leicht fahrlässig darstellen. In diesem Fall bestehe der Vertrag entgegen der Auffassung der Bekl. fort, weil der erklärte Rücktritt nicht in eine Kündigung umgedeutet werden könne.

 

Die Bekl. hat geltend gemacht, dass der Kl., der sowohl um seine MS-Erkrankung wie auch um die Ermüdungserscheinungen im rechten Bein und die Gefühlsstörungen in der rechten Hand gewusst habe, welche jeweils in den drei Monaten vor Antragstellung persistierten. Diese Beschwerden habe er anzeigen müssen. Die Formulierung der Frage sei unbedenklich. Vor dem Hintergrund seiner chronischen MS-Erkrankung, bei welcher es sich um einen auch aus Sicht des durchschnittlichen VN offenkundig gefahrerhöhenden Umstand handele, habe sich dem Kl. aufdrängen müssen, dass er die Beschwerden angeben müsse.

 

Das LG hat die Klage abgewiesen.

 

Die Berufung des Kl. hatte keinen Erfolg.

Dies begründete das Oberlandesgericht Stuttgart wie folgt:

 

Dem Kl. stehen die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche nicht zu, weil der dem Kl. rechtzeitig erklärte Rücktritt der Bekl. zur Leistungsfreiheit führt (§§ 19 Abs. 2, 21 Abs. 2 VVG). ...

 

1.

Der Versicherer kann gem. § 19 Abs. 2 VVG vom Vertrag zurücktreten, wenn der VN zumindest grob fahrlässig seine Obliegenheit verletzt, dem Versicherer die ihm bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung positiv bekannten Gefahrumstände anzuzeigen, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, sofern der Versicherer den VN auf diese Folge seiner Anzeigepflichtverletzung gem. § 19 Abs. 5 VVG hingewiesen hat. So liegt es hier.

 

a) Die Bekl. hat den Kl. in wirksamer Weise und in Textform nach einem gefahrerheblichen Umstand gefragt, indem sie den Kl. bei Antragstellung danach befragte, ob er in den letzten drei Monaten u.a. Beschwerden des Nervensystems, z.B. wegen Multipler Sklerose gehabt habe.

Soweit der Kl. geltend macht, dass die Frage als unwirksam anzusehen sei, weil es sich um eine offene Frage handele, welche das Risiko einer Falschbeantwortung unzulässig auf den VN verlagere, zumal diesem nicht erkennbar werde, was unter Beschwerden zu verstehen sei, so verfängt dies nicht.

 

aa) Mit Blick auf die hier streitgegenständlichen Beschwerden liegt bereits keine offene Frage vor, da die Bekl. konkret nach Beschwerden auf Grund einer MS-Erkrankung gefragt hat. Unabhängig hiervon teilt der Senat die vom Kl. geäußerten Bedenken im Streitfall nicht. Eine gewisse Abstraktionshöhe bei der Fragestellung ist im Massengeschäft unvermeidlich. Die Unzulässigkeit offener Fragen würde zu einem Detailierungsgrad der Fragebögen führen, der nicht nur unpraktikabel, sondern auch dem Verständnis des VN vom Fragenkatalog abträglich wäre. Infolgedessen sind offene Fragen, jedenfalls dann, wenn sie – wie hier – durch Angabe verschiedener Beispiele konkretisiert werden, nach h.M., welcher sich der Senat anschließt, als unbedenklich zu beurteilen (vgl. etwa OLG Frankfurt v. 19.1.2011 – 7 U 77/10, juris Rz. 31; Rolfs in Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., § 19 Rz. 31; BeckOK/Spuhl, VVG, § 19 Rz. 63 ff. [Stand: 2.5.2022]; Prölss/Martin/Armbrüster, VVG, 31. Aufl., § 19 Rz. 38; teilweise abweichend: Knappmann in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 14 Rz. 28 f., jeweils m.w.N.).

 

bb) Die Frage Nr. 6 ist auch nicht deshalb unklar, weil sie den Begriff der „Beschwerden“ verwendet. Dafür, wie die Formularfragen zu verstehen sind, sind die Verständnismöglichkeiten eines durchschnittlichen VN maßgeblich (etwa: BGH v. 26.10.1988 – IVa ZR 243/87, juris Rz. 15; Rolfs in Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., § 19 Rz. 29 m.w.N.). Eine Unklarheit besteht bei Anlegung dieses Maßstabs nicht. Der um Angabe von „Beschwerden“ ersuchte VN wird erkennen, dass die Frage nicht auf Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht zielt, sondern auch Beeinträchtigungen erfassen soll, die sich nicht bereits als Schaden oder Krankheit darstellen, sondern nur als Beschwerden zu bezeichnen sind. Schon nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch wird der VN unter einer „Beschwerde“ eine Gesundheitsbeeinträchtigung von geringerer Intensität verstehen, als dies beim Vorliegen u.a. einer Krankheit, mit welcher sich die vorangegangenen Fragen befassten, der Fall ist. Der VN wird die erkennbar weit gefasste Frage nach Beschwerden deshalb dahin verstehen, dass damit jede Gesundheitsbeeinträchtigung gemeint ist, die nicht offenkundig belanglos ist oder alsbald vergeht (vgl. dazu etwa BGH v. 2.3.1994 – IV ZR 99/93, VersR 1994, 711 = juris Rz. 16).

 

b) Diese Frage hat der Kl. objektiv unrichtig verneint, weil bei ihm auf seine MS-Erkrankung zurückzuführende Ermüdungserscheinungen im rechten Bein und Gefühlsstörungen in der rechten Hand aufgetreten waren.

 

aa) Allerdings erfordert der objektive Tatbestand der Anzeigepflichtverletzung gem. § 19 Abs. 1 VVG die Kenntnis des VN von dem jeweils anzeigepflichtigen Umstand. Ein VN verletzt seine Anzeigepflicht daher nicht, wenn er einen Umstand nicht angibt, der ihm aufgrund von Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist (vgl. BGH v. 25.9.2019 – IV ZR 247/18, VersR 2020, 18 Rz. 10 ff. m.w.N.). Über diese Kenntnis der anzeigepflichtigen Umstände verfügte der Kl. indessen.

 

bb) Dem steht nicht entgegen, dass der Kl. vorgebracht hat, dass ihm seine MS-Erkrankung bei Antragstellung nicht mehr präsent gewesen sei und er sich jedenfalls nicht krank gefühlt habe.

 

(1) Der Kl. hatte nach eigenem Bekunden erkannt, dass sein rechtes Bein nach ein bis zwei Kilometer Wegstrecke ermüdete. Diese Ermüdungserscheinung beruht, was der Kl. nicht in Abrede stellt, zumindest auch auf der MS-Erkrankung des Kl. Zwar hat der Kl. geltend gemacht, dass er die Ermüdungserscheinung zum Zeitpunkt der Antragstellung dennoch nicht mit der MS-Erkrankung in Verbindung gebracht habe, weil ihm diese Erkrankung nicht mehr im Sichtfeld gewesen sei, weshalb er die Ermüdungserscheinungen auf einen Bruch des Sprunggelenks aus dem Jahr 1994 zurückgeführt habe. Indessen geht der Senat nach dem im Rahmen der Parteianhörung gewonnenen Eindruck, welcher im Rahmen der Überzeugungsbildung berücksichtigt werden darf (vgl. BGH v. 27.9.2017 – XII ZR 48/17, NJW-RR 2018, 249 Rz. 12 m.w.N.), und der Würdigung des Parteivortrags nicht davon aus, dass dies zutrifft.

Bei der MS-Erkrankung handelt es sich um eine schwerwiegende neurologische Erkrankung, von welcher der Kl. schon nach seinen eigenen Angaben wusste, dass sie beobachtungspflichtig war und das Potential hatte, dass er durch die Krankheit – mit den Worten des Kl. – „zum Krüppel werde[n]“ konnte. Zwar ist zu sehen, dass die Erkrankung nach dem Vorbringen des Kl. seit 1996 – von den hier in Rede stehenden Beschwerden abgesehen – keine Einschränkungen für den Kl. hervorgerufen hatte, dennoch geht der Senat davon aus, dass der Kl. die Erkrankung gerade nicht „erfolgreich ignoriert“ hatte.

Dagegen spricht bereits, dass der Kl., ein studierter Maschinenbauingenieur, der sich selbst als neugierigen Menschen beschreibt, sich mit den von ihm selbst erkannten Beschwerden und deren Relevanz für den Fortbestand seiner Berufsfähigkeit bei der Antragstellung befasste hatte. Nach seinen eigenen Angaben hat sich der Kl. demnach bewusst entschlossen, die Beschwerden nicht anzugeben und hat diese vielmehr „abgetan“; die Beschwerden seien ihm „nicht so schlimm“ erschienen, weil sie „für den Beruf [...] nicht wichtig“ seien, nachdem er dort „ja die ganze Zeit [sitze]“. Es erscheint nicht glaubhaft, wenn der Kl., der zudem gezielt nach Beschwerden auf Grund einer Erkrankung an Multipler Sklerose gefragt wurde, sich dahin gehend einlässt, diese habe ihm bei Beantwortung der Frage dennoch nicht vor Augen gestanden. Dass die Erkrankung sich, entgegen seiner Darstellung, sehr wohl im Blickfeld des Kl. befand, folgt schon aus seiner weiteren Aussage, wonach er die Multiple Sklerose deshalb nicht angegeben habe, weil er „nie damit gerechnet [habe], dass die Multiple Sklerose zu einer Berufsunfähigkeit führen würde“. Denn eine solche – indessen

1286

OLG Stuttgart: Unterlassene Angabe von erfragten Gesundheitsbeeinträchtigungen im Antragsformular(VersR 2022, 1283)

nicht vom Kl. anzustellende – Bewertung der von der MS-Erkrankung für seine Berufsfähigkeit ausgehenden Risiken, kann denklogisch nur anstellen, wem die Erkrankung bewusst ist.

Da folglich davon auszugehen ist, dass dem Kl. seine MS-Erkrankung bewusst war, geht der Senat auch davon aus, dass dem Kl. auch der Umstand bewusst war, dass die Ermüdungserscheinungen im Bein jedenfalls zum Teil auf die MS-Erkrankung zurückzuführen waren.

Insofern hat der Kl. im Rahmen seiner Parteianhörung zwar angegeben, dass er die Beschwerden immer auf die Sprunggelenksverletzung zurückgeführt habe, wobei sich das mit der MS überlagert habe, so dass er manchmal auch nicht so genau wisse, woran es nun liege, was auch schon früher so gewesen sei. Dies steht aber im Widerspruch dazu, dass der Kl. die Ermüdungserscheinungen keineswegs schon immer, sondern erstmals in seiner Parteianhörung vor dem Senat, mit der Sprunggelenksverletzung erklärt hat. Zuvor hatte er als Erklärung für die von ihm wahrgenommenen Beschwerden vielmehr angeführt, dass er diese „auf eine schlechte Konstitution insgesamt in körperlicher Hinsicht zurückgeführt [habe], da er nicht in einem guten Trainingszustand gewesen [sei]“. Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass dem Kl. bei Antragstellung nicht nur die MS-Erkrankung an sich, sondern auch der Umstand bewusst war, dass diese mit zu den fraglichen Ermüdungserscheinungen führte.

 

(2) Auch die, ausweislich des Arztberichts vom 28.7.2016 (nachfolgend auch: Arztbericht) seit 1996 in der rechten Hand bestehenden Gefühlsstörungen waren dem Kl. nach seinen eigenen Angaben in der Parteianhörung bekannt und als Beschwerden auf Grund der MS-Erkrankung anzugeben.

 

Insofern war der Kl. zwar bestrebt, Zweifel an dem Arztbericht zu streuen, da Dr. ... welcher der Kl., zu einer Zeit als noch keine Berufsunfähigkeit im Raum stand, alles erzählt habe, was ihm so eingefallen sei, „alles komprimiert“ habe und das, was der Kl. „subjektiv gedacht habe, als objektive Wahrheit hingestellt [habe)“. Auf Vorhalt der anamnestischen Angaben des Kl. zu den Sensibilitätsstörungen in der rechten Hand hat der Kl., der sich schriftsätzlich zuvor dahin eingelassen hatte, sich an derartige Angaben nicht erinnern zu können, hingegen erklärt, dass er in dem Gespräch insoweit eine Verknüpfung zur MS vorgenommen habe, nachdem das Gespräch auf die MS-Erkrankung gekommen sei. Der Senat hat vor diesem Hintergrund keinen Zweifel, dass der Kl. gegenüber Dr. ... geschildert hatte. dass die leichten Gefühlsstörungen bereits seit 1996 vorlagen, wobei dem Kl. bewusst war, dass diese Beschwerden auf der MS-Erkrankung beruhten. Denn ein Beruhen dieser Beschwerden auf dem erst 1998/2000 stattgehabten Splitterbruch, welches der Kl. auch nicht ausdrücklich behauptet hat, schied schon in zeitlicher Hinsicht aus.

 

cc) Der Kl. hatte folglich Kenntnis von gesundheitlichen Beschwerden in Form einer Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beines und Gefühlsstörungen in der rechten Hand, welche weder offenkundig belanglos noch alsbald wieder vergangen waren, sondern zum Zeitpunkt der Antragstellung über geraume Zeit fortbestanden hatten.

Diese Gesundheitsbeeinträchtigungen musste der Kl. angeben. Denn der zur Angabe von Beschwerden aufgeforderte VN darf seine Antwort weder auf Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht beschränken noch sonst eine wertende Auswahl treffen und vermeintlich weniger gewichtige Gesundheitsbeeinträchtigungen verschweigen. Die Pflicht zur Offenbarung der Gesundheitsbeeinträchtigungen besteht nur dann nicht, wenn diese – wie hier nicht – offenkundig belanglos sind oder alsbald vergehen (BGH v. 19.3.2003 – IV ZR 67/02, r+s 2003, 336 = juris Rz. 10 m.w.N.). Eine Bewertung dieser Beschwerden wurde dem Kl. im Antragsformular nicht abverlangt und oblag auch nicht ihm, sondern nur der Bekl. als Versicherer. Dass der Kl. sich nicht krank gefühlt haben mag, ist daher mit Blick auf die Kenntnis des anzeigepflichtigen Umstands unerheblich (vgl. BGH v. 26.10.1994 – IV ZR 151/93, VersR 1994, 1457 = juris Rz. 18).

 

c) Der Umstand, dass der Kl. an Multipler Sklerose erkrankt war, einer chronischen und fortschreitenden Nervenerkrankung, stellt sich, worauf der Senat im Termin hingewiesen hat, als offenkundig gefahrerheblicher Umstand für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung dar. Denn es liegt auf der Hand, dass es sich dabei nicht um eine Gesundheitsstörung handelt, die offenkundig als leicht einzuordnen ist und nicht wiederholt auftritt, so dass sie von vornherein keinen Anhalt dafür bietet, dass sie für die Risikoeinschätzung des Versicherers hinsichtlich des auf Dauer angelegten Versicherungsvertrags von Bedeutung sein könnte. Einer Offenlegung der Risikoprüfungsgrundsätze der Bekl. bedurfte es folglich nicht (vgl. etwa BGH v. 20.9.2000 – IV ZR 203/99, VersR 2000, 1486 = juris Rz. 10, v. 11.2.2009 – IV ZR 26/06, VersR 2009, 529 Rz. 8; Rolfs in Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., § 19 Rz. 64 m.w.N.).

 

d) Das Rücktrittsrecht des Versicherers setzt sodann voraus, dass der VN die ihm obliegende Anzeigepflicht zumindest grob fahrlässig verletzt hat (§ 19 Abs. 3 VVG), wobei es dem VN obliegt, sich insofern zu entlasten (etwa HK-VVG/Schimikowski, 4. Aufl., § 19 Rz. 55 ff.; BeckOK/Spuhl, VVG, § 19 Rz. 121 ff., jeweils m.w.N. [Stand: 2.4.2022]). Dies gelingt dem Kl. nicht. Nachdem der Senat, wie dargelegt, davon überzeugt ist, dass dem Kl. bei Antragstellung bewusst war, dass er unter Beschwerden litt, die auf seine MS-Erkrankung zurückzuführen waren, und er nach seiner eigenen Darstellung ein im Kern zutreffendes Verständnis davon hatte, was unter den Begriff der „Beschwerden“ fiel, fällt dem Kl. vielmehr eine vorsätzliche Verletzung der Anzeigepflicht zur Last.

 

e) Dass der Kl. – wie vom LG angenommen – ordnungsgemäß über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung belehrt war (§ 19 Abs. 5 VVG), steht zwischen den Parteien nicht mehr im Streit.

 

2. Die Bekl. hat das ihr danach zustehende Rücktrittsrecht gem. § 21 Abs. 1 VVG binnen Monatsfrist und damit rechtzeitig erklärt und ist folglich leistungsfrei (§ 21 Abs. 2 VVG)

 

a) Die Monatsfrist beginnt mit Ablauf desjenigen Tags (§ 187 Abs. 1 BGB), an dem der Versicherer von der Verletzung der Anzeigeobliegenheit eine sichere und zuverlässige Kenntnis erlangt. Das ist gegeben, wenn der Versicherer zuverlässige Kunde davon hat, dass der VN ihm bekannte gefahrerhebliche Umstände nicht angegeben hat oder über bekannte Umstände falsche Angaben gemacht hat. Sein Kenntnisstand muss den Versicherer in die Lage versetzen, auf der Grundlage hinreichend sicherer Kenntnis beurteilen zu können, ob er die wirtschaftlichen Risiken eines Rechtsstreits eingehen will (etwa Senat v. 21.12.2017 – 7 U 101/17, VersR 2018, 1310 = juris Rz. 94 m.w.N.).

 

b) Diese Kenntnis lag bei der Bekl., entgegen der Auffassung des Kl., nicht bereits auf Grund des Arztberichts vor. Weder aus diesem noch aus dem ihm beigefügten vorläufigen Entlassungsbericht des Neurologischen Rehabilitationszentrums G. lassen sich belastbare Erkenntnisse zu der Frage gewinnen, ob dem Kl. seine Erkrankung oder darauf zurückzuführende Beschwerden bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bewusst war. Gegenteiliges zeigt der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Kl. nicht auf (vgl. BGH v. 28.11.1990 – IV ZR 219/89, VersR 1991, 170 = juris Rz. 25; Rolfs in Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., § 21 Rz. 62, jeweils m.w.N.).

 

c) Danach begann die Frist des § 21 Abs. 1 VVG nicht vor dem Zugang des die erforderlichen Kenntnisse vermittelnden Arztberichts, welcher handschriftlich auf den 16.12.2019 datiert ist. Diesen hat die Bekl. für den 27.12.2019 eingeräumt. Für einen früheren als den 27.12. hat der Kl. einen Beweis nicht angeboten. Die folglich mit Zugang vom 27.12. in Lauf gesetzte Monatsfrist hat die Bekl. gewahrt.

 

d) Nach Anhörung der Zeugen ... und ... steht für den Senat mit der erforderlichen Gewissheit fest (§ 286 ZPO), dass das Schreiben vom 15.1.2020 dem Kl. am 16.1.2020 zugegangen ist.

Der Senat folgt den Angaben der Zeugen, welche die maßgeblichen Vorgänge plausibel und nachvollziehbar ihrem jeweiligen Kenntnisstand entsprechend geschildert haben. Dabei ist insbesondere – auch wenn die Zeugen bei der Bekl. beschäftigt sind – eine Aussagetendenz zugunsten des Bekl. in beiden Aussagen nicht erkennbar geworden. Der Senat hat deshalb – auch aufgrund des persönlichen Eindrucks, den er von den Zeugen gewonnen hat – keine Zweifel an deren Glaubwürdigkeit.

 

aa) Der Zeuge ... hat als Leiter der Poststelle der Bekl. glaubhaft erläutert, dass eine Sendungsnachverfolgung dadurch gewährleistet wird, dass der als Einwurfeinschreiben zu versendende Brief mittels von der Post zur Verfügung gestellter Aufkleber mit der manuell geführten Versandliste verknüpft wird. Der Senat konnte sich durch Abgleich dieser Liste, der Einlieferungsbestätigung der Post und dem im Termin ebenfalls vorgelegten Zustellnachweis, welche jeweils die gleiche Sendungsnummer aufwiesen, davon überzeugen, dass der Zugangszeitpunkt des Einwurfeinschreibens, dessen Zugang der Kl. als solches nicht bestritten hat, am 16.1.2020 lag.

 

bb) Insofern steht für den Senat auf Grund der Aussage der Zeugin ... weiter fest, dass dieses Einwurfeinschreiben die streitgegenständliche Rücktrittserklärung vom 15.1.2020 enthielt. Denn nach Aussage der Zeugin wurde an den Kl. im Vertragsverlauf nur ein einziges Einschreiben versandt. Auch der Kl. behauptet den Erhalt weiterer Einschreiben nicht.

e) Da die Bekl. das ihr zustehende Rücktrittsrecht somit fristgerecht ausgeübt hat, hat sich der Versicherungsvertrag in ein Rückgewährschuldverhältnis gewandelt (etwa Rolfs in Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl., § 21 Rz. 32 m.w.N.).

 

Dem Kl. steht folglich weder die begehrte Feststellung zu noch kann er die Bekl. auf Leistung in Anspruch nehmen. Die Abweisung der Klage erfolgte deshalb – im Ergebnis – zu Recht, so dass die Berufung zurückzuweisen war.